«Wir leben nicht einfach innerhalb des kulturellen Erbes, sondern wir sind für dieses Erbe auch verantwortlich»

«Wir leben nicht einfach innerhalb des kulturellen Erbes, sondern wir sind für dieses Erbe auch verantwortlich»

— Michail Koschuchowski, Oktober 2016.


Im Museum für Schöne Künste von Jekaterinburg haben die Eremitage-Tage mit einem interessanten Veranstaltungsprogramm begonnen. Eine der Veranstaltungen war für uns Anlass zu einem Treffen mit Michail Koschuchowski, dem Leiter des Volunteer Service der Eremitage. Angesichts der Gründung des «Eremitage-Ural-Projekts» haben wir die Gelegenheit genutzt, um mit Michail darüber zu sprechen, wie das kreative Potential der Freiwilligen geweckt werden kann und was für eine wichtige Aufgabe die ehrenamtliche Arbeit in der heutigen Welt darstellt.

— Michail Jurewitsch, haben Sie Zeit gehabt Jekaterinburg kennenzulernen?

— Ich bin zum ersten Mal hier und beginne erst seit ein paar Tagen mich mit den kulturellen Traditionen der Stadt auseinanderzusetzen. Wir haben mit mehreren Vertretern von sozialen Organisationen und Museen gesprochen, die daran interessiert sind, einen Freiwilligendienst aufzubauen. Ich hoffe, dass uns all dies dabei helfen wird, die Aktivitäten der Freiwilligen besser zu konzipieren und die Herausforderungen für die kulturellen Institutionen, die diese Veranstaltungen organisieren, besser zu verstehen.

Leider bin ich mit den Freiwilligendiensten im Ural noch nicht sehr vertraut aber ich werde mich sehr gerne damit beschäftigen. Ein ausgearbeitetes Konzept für eine Zusammenarbeit ist zwar noch nicht entstanden aber es ist wichtig und gut, dass wir damit begonnen haben. Ich habe sehr gute Erfahrungen bei der Organisation des Volunteer Service der Eremitage gemacht. Ich bin mir bewusst, dass sich bei uns spezifische Gewohnheiten, Praktiken und Methoden in der Zusammenarbeit mit den Volontären entwickelt haben und dass ein Konzept entstanden ist, das sich von allen anderen Konzepten der ehrenamtlichen Arbeit im kulturellen Bereich unterscheidet. In dieser Hinsicht sind wir einzigartig! Unser System hat sich allerdings dank der Tatsache entwickelt, dass wir Teil einer einzigartigen Stadt und eines einzigartigen Museums sind. Die Eremitage ist der Mittelpunkt zahlreicher kultureller Traditionen und in der ganzen Welt berühmt. Ich hoffe, hier in Jekaterinburg besser zu verstehen, was die Interessen der jungen Leute dieser Stadt sind, welche Atmosphäre hier herrscht, was die junge Generation anstrebt und was ihr helfen kann, sich zusammenzuschließen, um neue und interessante Projekte zu schaffen.

— Worin liegt die Einzigartigkeit der Organisation des Freiwilligendienstes der Eremitage?

— An der Eremitage spielt die Erfahrung der Museumsangestellten, mit denen wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten, eine wichtige Rolle. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit nehmen sie gerne an der Entwicklung von Projekten des Volunteer Service teil und können sich so auf neuen Gebieten verwirklichen. Wir sind wiederum auf die Unterstützung der Experten angewiesen. Sie helfen uns zum Beispiel dabei, Kostüme zu nähen. Für das Projekt «Palmyra Leben einhauchen!» hat uns der Kurator der Abteilung für Skulpturen gezeigt, wie man Kleidung aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. fertigt. Ohne die Hilfe von zahlreichen Spezialisten, die an pädagogischen Projekten arbeiten oder die antike Welt und den Orient erforschen, wären den Freiwilligen die Hände gebunden gewesen und wir hätten das Projekt nicht auf diesem hohen Niveau realisieren können. Wenn man die Eremitage vertritt, muss jede Aufgabe auf ernsthafter wissenschaftlicher Recherche basieren. Zum Glück arbeiten wir in genauso einer Einrichtung, die es erlaubt, zahlreiche Talente aufzudecken und mit dem Enthusiasmus der Mitarbeiter zu vereinen, sodass wunderbare Projekte daraus entstehen. Ich kann sogar sagen, dass wir eine der kreativsten Einrichtungen der Eremitage sind: eine Blüte von Ideen, ganz neue Arten der Zusammenarbeit mit den Abteilungen und die Suche nach etwas Neuem erlauben es uns fantastische Veranstaltungen zu realisieren.

Ein weiteres einmaliges Prinzip von uns ist es, den Freiwilligen ein Verantwortungsbewusstsein für die Erhaltung des kulturellen Erbes zu vermitteln. Die Ehrenamtlichen beginnen ihre Arbeit innerhalb der Mauern der Eremitage mit einem genauen Verständnis dieser wichtigen Mission. Wir erlauben den Volontären keinesfalls zu denken, dass sie in der Eremitage eine rein mechanische Tätigkeit ausüben – niemals. Sie sind nicht nur für den Volunteer Service verantwortlich, sondern auch für die Eremitage, eines der besten Museen, und für das gesamte kulturelle Erbe der Welt – das muss man spüren. Natürlich ist es schwierig, so eine Verantwortung zu fühlen aber es ist wichtig zu verstehen, dass jede Idee und jedes von einem Freiwilligen geschaffene Projekt diese Aufgabe erfüllt. Die Volontäre arbeiten bei allen Aufgaben immer mit dieser globalen und edlen Idee vor Augen: sei es den Müll wegzubringen, Kisten auszupacken oder Gäste zu empfangen – auch bei diesen nicht besonders kreativen Tätigkeiten verstehen sie die hohe Aufgabe und sind immer bereit, Schwierigkeiten zu überwinden und ihre Zeit zu investieren, um spontan für jemanden einzuspringen. Mir scheint, dass allein wegen dieser hohen Mission und dieser globalen Idee ähnliche Einrichtungen auf der ganzen Welt gegründet werden müssen.

Ehrenamtliche Arbeit, ob es sich um die Tätigkeit der einzelnen Person oder die des gesamten Teams handelt, ist eine konstante Arbeit an sich selbst. Obwohl unser Freiwilligendienst nun schon seit 13 Jahren besteht, hören wir nicht auf, uns neue Ziele zu setzen und uns zu verbessern. Diese Worte hören sich vielleicht banal an aber wir versuchen wirklich zu verstehen, warum junge Menschen heutzutage unser kulturelles Erbe brauchen. Wir haben sogar ein ganzes Projekt, das darauf abzielt jungen Menschen näherzubringen, welche Rolle sie beim Schutz des Kulturerbes spielen können. Wir bestehen auf der Vorstellung, dass wir nicht einfach innerhalb des kulturellen Erbes leben, sondern für dieses Erbe auch verantwortlich sind. Wir können gegenüber dem, was in der Welt passiert, nicht gleichgültig sein. Wir können nicht sagen, dass wir auf etwas Wert legen, nur weil es mit unserer Arbeit zu tun hat und dem, was in der Entfernung passiert, keine Bedeutung beimessen. Das darf nicht passieren!

Als wir das Projekt geplant haben, in dem es um die schrecklichen Ereignisse in Palmyra geht, haben wir uns für den Titel «Palmyra Leben einhauchen!» entschieden. Wir haben uns also zum Ziel gesetzt, dass jeder Teilnehmer des Projekts maximal involviert ist und an diesem «Einhauchen» des Lebens, der Wiedergeburt Palmyras, direkt teilnimmt, damit ihm die Stadt vertraut wird. Auf der Grundlage dieses Konzepts haben wir ein interaktives zusammenlegbares Modell des Baaltempels und ein enormes Puzzle der Landkarte von Palmyra kreiert, das zusammengesetzt werden kann, so als ob man die Stadt neu aufbauen würde. Wir haben nicht das Recht, die Kultur zu vergessen und wir dürfen nicht zulassen, dass sie zerstört wird. Allein indem wir uns auf diese Prinzipien berufen, beginnen wir behutsam eine Verbindung mit dem, was uns umgibt, aufzubauen.

Natürlich wirft dies sehr viele Fragen auf. Journalisten haben uns gefragt, warum wir uns mit Palmyra beschäftigen, wo es doch so viele Probleme in unserer Nähe gibt. Aber wenn wir uns erlauben zu glauben, dass dies nicht wichtig und unbedeutend ist, können wir nie den Wert von dem verstehen, was sich in unserer Nähe befindet. Wir versuchen immer diese Rolle zu verstehen, wir lernen uns selbst besser kennen und können die Funktion der Museen in der Gesellschaft besser verstehen. Es scheint mir, dass man mit dieser hohen Mission die Freiwilligen von Jekaterinburg, die aus verschiedensten Bereichen kommen, zusammenbringen kann und dass dies die Basis für viele interessante Projekte sein wird. Das Wichtigste, der größte Bonus und die Hauptmotivation für die Volontäre ist, wenn sie die Verantwortung verstehen, die sie haben – dann machen sie die Arbeit, die von anderen für klein, unwichtig oder Routine gehalten wird, auf dem gebührend hohen Niveau.

— Sie haben erwähnt, dass es im Volunteer Service der Eremitage ein einzigartiges System gibt, die Leute einzubinden. Können Sie davon noch mehr berichten?

— Wir arbeiten sehr gerne mit Menschen verschiedenster Nationalitäten zusammen und zu uns kommen viele Studenten aus unterschiedlichen Ländern. Wir haben bereits Kontakt zu den Universitäten, an denen ausländische Studenten studieren oder ein Praktikum machen. Viele sind sofort von unserer Arbeit fasziniert und bereit, ihre Zeit zu investieren, um an unseren Projekten zu arbeiten. Für uns ist es sehr wichtig, neue Erfahrungen zu sammeln, denn nur so können wir etwas Neues schaffen.

Die Verwirklichung unserer Projekte ist zentral und ein wichtiger Anreiz für die Arbeit als Freiwilliger. Während der Arbeit müssen die Ehrenamtlichen zusammen mit Gleichgesinnten an Projekten teilnehmen. Sie haben daher vom ersten Tag an die Aufgabe ihr eigenes Projekt umzusetzen und das bedeutet, dass sie alle Aspekte der Arbeit sorgfältig betrachten werden – nicht nur innerhalb unseres Büros, sondern auch in der umgebenden Welt, mit dem Ziel interessante Ideen vorschlagen zu können. Es ist wichtig, dass das Projekt einen Bezug zur Entwicklung der Museumsarbeit und der Kunstvermittlung, zu der Einbindung in den Freiwilligendienst und zu der Zusammenarbeit mit pädagogischen Projekten und Universitäten hat. Normalerweise ist jedes neue Projekt ein neuer Blickpunkt, der es uns ermöglicht, uns selbst besser zu verstehen und neue Ideen zu schaffen und vorzuschlagen.

Die Verantwortung, die die Freiwilligen vom ersten Tag an tragen, erlaubt es ihnen Recherchen zu machen, neue Wege einzuschlagen und neue Ideen vorzuschlagen. Es wäre schön, wenn ihr hier etwas Ähnliches schaffen könntet, etwas, das auf der Erfahrung des kulturellen Lebens von Jekaterinburg basiert. Ich denke, dass hier bestimmt neue Mechanismen entstehen, um das kreative Potenzial der jungen (und nicht nur der jungen) Generationen zu entdecken!

— Haben Sie selbst schon einmal als Ehrenamtlicher gearbeitet?

— Ich bin der geborene Volontär! Das ist meine Mission. Ich sage den Ehrenamtlichen immer: wenn ihr die Mauern der Eremitage verlasst, müsst ihr daran denken, dass ihr nicht das Recht habt an einem Touristen, der sich verlaufen hat, oder an einem Fremden, der sich nicht zurecht findet, vorbeizugehen ohne ihm zu helfen. Auch wenn ihr schüchtern seid habt ihr nicht das Recht dazu weiterzugehen ohne stehen zu bleiben und eure Hilfe anzubieten. Auch wenn ihr die Antwort nicht wisst – tretet näher, fragt und versucht zu helfen. Vom ersten Tag an lernen die Freiwilligen zu helfen. Es ist klar, dass sie noch nicht über das gleiche Wissen verfügen wie diejenigen, die schon seit langer Zeit bei uns arbeiten, aber wenn ein Besucher eine Frage stellt, kann man nicht antworten: «Ich weiß es nicht, ich bin gerade erst angekommen». Man muss hingehen, überlegen und zusammen mit dem Besucher eine Antwort finden. Man muss sagen: jetzt überlegen wir, lösen die Frage und alles wird gut.

Diese Einstellung wird für den Einzelnen ein Leben lang zu einem inneren Kernstück und normalerweise bleiben die, die zu uns kommen, für immer Volontäre in unserem Büro, denn eine solche Erfahrung hinterlässt Spuren und ist eine wichtige Schule fürs Leben. Das mag sehr pathetisch klingen aber wenn wir dieses hohe Ziel nicht verfolgen, wenn wir diesen Idealismus nicht haben, können wir keine Heldentat im Leben vollbringen – das heißt ein ehrlicher würdiger Bürger sein, für den Geschichte, Kultur und Heimat einen Wert haben.

— Worin unterscheidet sich ein Ehrenamtlicher aus dem kulturellen Bereich von einem Ehrenamtlichen, der, sagen wir mal, im Bereich von Sport oder Umweltschutz tätig ist?

— Meiner Meinung nach erfüllen sie alle wichtige Aufgaben. Wir stehen in gutem Kontakt zu allen ehrenamtlichen Organisationen von Sankt Petersburg und deshalb verstehen wir sehr gut, dass die Arbeitsbedingungen in unserem fantastischen Museum einfach nicht mit den schwierigen Bedingungen von anderen Organisationen verglichen werden können, die sich mir sehr komplexen Aufgaben befassen und deren Freiwillige viel Stress aushalten müssen und auf eine harte Probe gestellt werden. Aus diesem Grund versuchen wir immer die Leute zu verstehen, sie respektvoll zu behandeln und an den gemeinsamen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Ehrenamtlichen der Eremitage nehmen an städtischen und sportlichen Veranstaltungen teil, sie heißen die anderen Ehrenamtlichen willkommen und sind bereit, ihre Erfahrung zu teilen. Auf diese Weise wird die Eremitage Teil von einer riesigen Bewegung und die Volontäre müssen verstehen, dass wir alle an einer großen Aufgabe arbeiten.

Vielleicht liegen die Unterschiede in jenem Prinzip, von dem ich bereits gesprochen habe – in der besonderen Beziehung mit unserem Kulturerbe und im Verständnis dieser wichtigen Aufgabe. Außerdem geben wir jedem Ehrenamtlichen nicht eine spezielle Aufgabe, sondern jeder muss bereit sein, jede Art von Aufgabe zu übernehmen. Wir können an Projekten arbeiten, bei denen die Stärken, das Wissen und die Fertigkeiten von allen zum Einsatz kommen aber man muss auch jederzeit bereit sein, die kreativen Aufgaben wegzulegen und gemeinsam Kartons aufzuräumen, den Müll rauszubringen, den Behinderten zu helfen, einen Lkw mit Spielzeug auszuladen und noch vieles mehr. Und wir lieben es, all das zu machen: solche Sachen zu machen, verbindet uns.

— Warum gewinnt die ehrenamtliche Arbeit heutzutage an Popularität? Warum braucht die Gesellschaft Ehrenamtliche?

— Ich bin sehr froh, dass wir die Wichtigkeit und die Notwendigkeit der pädagogischen Bedeutung des Ehrenamtes für junge Menschen endlich auf hoher politischer Ebene verstanden haben. Als wir jung waren gab es Komsomol, wo viele schöne Sachen «ehrenamtlich» gemacht wurden und das hatte zur Folge, dass der pädagogische Effekt ausblieb. Es ist wunderschön, dass wir nun die Möglichkeit haben die junge Generation mit den Prinzipien des Freiwilligendienstes zu erziehen. Dies bietet die Möglichkeit die Stärken der Laien mit denen der Spezialisten zu verbinden, von den älteren Generationen etwas über das Leben zu erfahren, nicht mit Hilfe von Büchern oder Massenkommunikationsmitteln, sondern durch eine gemeinschaftlichen Arbeit.

Es gibt keine Alternative: hier finden wir Einheit, Verantwortung für andere, das Gefühl, dass das menschliche Leben wertvoll ist und Geschichte und Tradition eine Bedeutung haben. Das alles verbindet sich mit dem natürlichen Wunsch des Einzelnen Liebe zu zeigen. Es ist notwendig diese Initiative, die jedem Einzelnen innewohnt, zu unterstützen. Wir ziehen uns manchmal in unseren Individualismus zurück, um unsere persönlichen Probleme zu lösen aber tatsächlich leiden wir, weil wir nicht gehört werden, weil wir uns selbst nicht ausdrücken können und wir sind beunruhigt, wenn wir die Isoliertheit um uns herum sehen. Es ist wunderbar, dass es Mechanismen gibt, die es uns erlauben, das alles zu überwinden oder wenigsten all die schönen und guten Dinge, die in uns, unseren Nächsten und unseren Freunden stecken, zu realisieren und es ist schön eine möglichst gute Anwendungsmöglichkeit für diese Mechanismen zu finden.

Das Interview führte Darja Mitschurina, Oktober 2016.